KOMMUNISTISCHES
MANIFEST
VORWORT
Vor 150 Jahren erschien das Kommunistische Manifest
("Manifest der Kommunistischen Partei"), das mit wissenschaftlichem Anspruch
die kapitalistische Zivilisation und die Alternative einer humanen Zivilisation
beschrieb. Daß der Text in meisten Ländern nur in
größeren Bibliotheken zugänglich ist, erklärt sich nicht
nur aus der langen Zeitspanne, die seit dem Erscheinen vergangen ist. Wichtiger
ist, daß die Alternative einer humanen Zivilisation heute - in erster
Linie aus politischen Gründen - weder theoretisch noch praktisch auf der
Tagesordnung steht.
Diese Neuausgabe des Werkes erfolgt nicht nur wegen
seiner schweren Zugäng-lichkeit. Das Kommunistische Manifest ist in
unseren Augen nicht allein von kulturgeschichtlicher Bedeutung. Deshalb haben
wir versucht, es zu aktualisieren und auf philosophischer Ebene zur
gegenwärtigen Weltlage in Bezug zu setzen, indem wir einige Stellen
kommentieren bzw. erläutern. (In diesen Kommentaren und Erläuterungen
folgen wir nach Möglichkeit der heute archaisch erscheinenden Sprache des
Origanaltexts.) Zugleich haben wir das dritte und vierte Kapitel weggelassen,
auf deren sich aus ihrer Zeitgebundenheit ergebende Mängel schon die
Verfasser selbst hingewiesen haben.1
1“Ferner
ist selbstredend, daß die Kritik der sozialistischen Literatur für
heute lückenhaft ist, weil sie nur bis 1847 reicht; ebenso, daß die
Bemerkungen über die Stellung der Kommunisten zu den verschiedenen
Oppositionsparteien (Abschnitt IV), wenn in den Grundzügen auch heute noch
richtig, doch in ihrer Ausführung heute schon deswegen veraltet sind, weil
die politische Lage sich total umgestaltet...
hat“. (Vorwort zur
deutschen Ausgabe von 1872)
Die vorliegende Ausgabe ist
auch auf der Homepage der Linken Alternative (www.bal.hu) abrufbar.
Budapest, 1. Mai 1998
Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des
Kommunismus.2
2Heute geht das Gepenst des Kommunismus auf
der ganzen Erde um. Es schreckt jene auf, die in der Gesellschaft Privilegien
genießen. Dieses Gespenst ist rätselhaft
und nicht greifbar, weil ein Mangelgefühl der Menschen darin Gestalt
annimmt, jenes - sich auf verschiedene Weise konkretisierende - Gefühl des
Mangels einer humanen und gerechten Gesellschaft, welches sich in Seele und
Geist der Massen der Individuen immer wieder aufs neue entwickelt. Das Gespenst
des Kommunismus drückt in Wirklichkeit die Sehnsucht bzw. das Streben nach
einer humanen und gerechten Gesellschaft aus. Es wird so lange nicht vernichtet
werden, als die Menschen sich nicht frei fühlen: so lange, als sie mit gesellschaftlichen
Zwängen zusammenstoßen, die ihre Individualität
einschränken. In diesem Sinne ist das Gespenst des Kommunismus das
Gespenst der Befreiung der Individualität.
Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer
heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar,
Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten.
Wo ist die Oppositionspartei, die nicht von ihren
regierenden Gegnern als kommunistisch verschrien worden wäre, wo die
Oppositionspartei, die den fortgeschritteneren Oppositionsleuten sowohl wie
ihren reaktionären Gegnern den brandmarkenden Vorwurf des Kommunismus
nicht zurückgeschleudert hätte?
Zweierlei geht aus dieser Tatsache hervor.
Der Kommunismus wird bereits von allen
europäischen Mächten als eine Macht anerkannt.
Es ist hohe Zeit, daß die Kommunisten ihre
Anschauungsweise, ihre Zwecke, ihre Tendenzen vor der ganzen Welt offen
darlegen und den Märchen vom Gespenst des Kommunismus ein Manifest der
Partei selbst entgegenstellen.3
3Es ist auch heute noch zeitgemäß,
die kommunistischen Ansichten, Ziele und Bestrebungen jenen Märchen
gegenüberzustellen, die vom Kommunismus und vom Gespenst des Kommunismus
erzählen. Der eine Grund hierfür ist, daß die konkrete
Ideologie und Praxis der Gebilde mit dem Namen “Kommunistische
Partei“ im allgemeinen innerhalb des Rahmens des kapitalistischen Systems
verbleibt. Der andere Grund ist der sog. “real existierende
Sozialismus“, der mit dem Namen des Kommunismus aus taktischen
Überlegungen Schindluder treibt und den Begriff des Kommunismus - zur
Freude von dessen Gegnern - in Verruf bringt.
Zu diesem Zweck haben sich Kommunisten der
verschiedensten Nationalität in London versammelt und das folgende
Manifest entworfen, das in englischer, französischer, deutscher, italianischer,
flamischer und dänischer Sprache veröffentlicht wird.4
4Das an das 21. Jahrhundert gerichtete
Manifest publizieren wir in englischer, deutscher und ungarischer Sprache und
speisen es außerdem ins Internet ein.
I. Bourgeois und Proletarier*
*Unter Bourgeoisie wird die Klasse der modernen
Kapitalisten verstanden, die Besitzer der gesellschaftlichen Produktionsmittel
sind und Lohnarbeit ausnutzen. Unter Proletariat die Klasse der modernen
Lohnarbeiter, die, da sie keine eigenen Produktionsmittel besitzen, darauf
angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu können. (Anmerkung
von Engels zur englischen Ausgabe von 1888)
Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft**
ist die Geschichte von Klassen-kämpfen.
**Das heißt, genau gesprochen, die schriftlich
überlieferte Geschichte. 1847 war die Vorgeschichte der Gesellschaft, die
gesellschaftliche Organisation, die aller niedergeschriebenen Geschichte
vorausging, noch so gut wie unbekannt. Seitdem hat Haxthausen das Gemeineigentum
am Boden in Rußland entdeckt, Maurer hat es nachgewiesen als die
gesellschaftliche Grundlage, wovon alle deutschen Stämme geschichtlich
ausgingen, und allmählich fand man, daß Dorfgemeinden mit
gemeinsamem Bodenbesitz die Urform der Gesellschaft waren von Indien bis
Irland. Schließlich wurde die innere Organisation dieser urwüchsigen
kommunistischen Gesellschaft in ihrer typischen Form bloßgelegt durch
Morgans krönende Entdeckung der wahren Natur der Gens und ihrer Stellung
im Stamm. Mit der Auflösung dieser ursprünglichen Gemeinwesen beginnt
die Spaltung der Gesellschaft in besondre und schließlich einander
entgegengesetzte Klassen. (Anmerkung von Engels zur englischen Ausgabe von
1888)
Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und
Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und
Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen
ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der
jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete
oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.
In den früheren Epochen der Geschichte finden wir
fast überall eine vollständige Gliederung der Gesellschaft in
verschiedene Stände, eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen
Stellungen. Im alten Rom haben wir Patrizier, Ritter, Plebejer, Sklaven; im
Mittelalter Feudalherren, Vasallen, Zunftbürger, Gesellen, Leibeigene, und
noch dazu in fast jeder dieser Klassen wieder besondere Abstufungen.
Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft
hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die
Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue
Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle
der alten gesetzt.
Unsere
Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß
sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet
sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große,
einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.5
5Im Hinblick auf die eigene Lage ist jeder Proletarier, dessen
Arbeitskraft dafür genutzt wird, mit ihrer Tätigkeit die Bildung von
Profit zu befördern, d.h.
die unmittelbar oder mittelbar zum Unterhalt der Kapitaleigner und ihrer
Mitkonsumenten beiträgt. Jeder ist Proletarier, der zugunsten des
Ausbeutungssystems Lohnarbeit von wirtschaftlichem oder politischem Charakter
verrichtet. Unmittelbar befördern die Profitbildung jene wirtschaftlichen
Lohnarbeiter, die Mehrwert produzieren, der in ihrem Lohne nicht enthalten ist.
Vermittelt tragen zur Profitbildung alle jene (Polizisten, Politiker, Juristen,
Lehrer, Manager etc.) bei, die angestellt werden, um das Ausbeutungssystem in
Gang zu halten. Keine Lohnarbeiter, sondern Mitkonsumenten des Profites sind
jene Menschen, die angestellt werden, um den Kapitaleignern (und den
Geldmittelbesitzern) persönliche Dienste zu leisten: sie sorgen für
deren Bequemlichkeit und Vergnügen (häusliche Dienstboten, Leibwächter,
persönlicher Chauffeur etc.).
Für die dauerhafte Inganghaltung der kapitalistischen
Ordnung ist einerseits wirtschaftliches Wachstum (und deswegen
Mehrwertproduktion) und andererseits Stabilität (und deshalb ein
staatliches Regelwerk) vonnöten. Die sog. “existierenden
Sozialismen“ waren von einer staatskapitalistischen Wirtschaftspolitik
gekenn-zeichnet. Sie übernahmen die Entwicklungsmaßstäbe der
bürgerlichen Zivilisation und damit auch deren kapitalistisches Wertesystem
und haben sich das wirtschaftliche Einholen des entwickelten Westens zum Ziel
gesetzt. Die dafür verwendeten Mittel sind ebenfalls Wirtschaftswachstum
(Akkumulation) und staatliches Regelwerk. Ein wesentlicher Unterschied zwischen
den beiden Systemen besteht in der ideologischen Taktik. Der traditionelle
Kapitalismus versucht das System unter Berufung auf das Ideal der Freiheit, der
“real existierende Sozialismus“ unter Berufung auf das der
Gleichheit zu legitimieren. Zugleich besteht das gemeinsame Charakteristikum beider
Ordnungen darin, daß sie im Dienste des Systems zwei Typen von
Lohnarbeitern beschäftigen: solche, die das Wirtschaftswachstum
befördern (und Mehrwert schaffen) und solche, deren Arbeit der
Konservierung der politischen Ordnung dient.
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts haben sich
bei der Entlohnung der Lohnarbeiter wesentliche Abweichungen herausgebildet.
Der Hilfsarbeiter und der Direktor, der Polizist und der Minister stehen
gleichermaßen im Dienste des Kapitals (des Privatkapitals oder des
kapitalistischen Staates) und dienen gleichermaßen dem System, aber
keinesfalls für den gleichen Lohn. Die wirtschaftliche und soziale
Schichtung der Lohnarbeiterschaft hat sich längst vollzogen. Der gut
bezahlte Lohnarbeiter hat die Möglichkeit, sein erspartes Geld anzulegen
und in den Genuß von Kapitaleinkommen (Zinsen, Dividenden) zu gelangen.
Im Gefolge all dessen ist das Gefühl der Klassenzugehörigkeit
unsicherer geworden.
Aus den Leibeigenen des Mittelalters gingen die Pfahlbürger der ersten Städte hervor; aus dieser Pfahlbürgerschaft entwickelten sich die ersten Elemente der Bourgeoisie.
Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas
schufen der aufkommenden Bourgeoisie ein neues Terrain. Der ostindische und
chinesische Markt, die Kolonisierung von Amerika, der Austausch mit den
Kolonien, die Vermehrung der Tauschmittel und der Waren überhaupt gaben
dem Handel, der Schiffahrt, der Industrie einen nie gekannten Aufschwung und
damit dem revolutionären Element in der zerfallenden feudalen Gesellschaft
eine rasche Entwicklung.
Die bisherige feudale oder zünftige Betriebsweise
der Industrie reichte nicht mehr aus für den mit neuen Märkten
anwachsenden Bedarf. Die Manufaktur trat an ihre Stelle. Die Zunftmeister
wurden verdrängt durch den industriellen Mittelstand; die Teilung der
Arbeit zwischen den verschiedenen Korporationen verschwand vor der Teilung der
Arbeit in der einzelnen Werkstatt selbst.
Aber immer wuchsen die Märkte, immer stieg der
Bedarf. Auch die Manufaktur reichte nicht mehr aus. Da revolutionierte der Dampf
und die Maschinerie die industrielle Produktion. An die Stelle der Manufaktur
trat die moderne große Industrie, an die Stelle des industriellen
Mittelstandes traten die industriellen Millionäre, die Chefs ganzer
industrieller Armeen, die modernen Bourgeois.
Die große Industrie hat den Weltmarkt
hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete. Der Weltmarkt hat dem
Handel, der Schiffahrt, den Land-kommunikationen eine unermeßliche
Entwicklung gegeben. Diese hat wieder auf die Ausdehnung der Industrie
zurückgewirkt, und in demselben Maße, worin Industrie, Handel,
Schiffahrt, Eisenbahnen sich ausdehnten, in demselben Maße entwickelte
sich die Bourgeoisie, vermehrte sie ihre Kapitalien, drängte sie alle vom
Mittelalter her überlieferten Klassen in den Hintergrund.
Wir sehen also, wie die moderne Bourgeoisie selbst das
Produkt eines langen Entwicklungsganges, einer Reihe von Umwälzungen in
der Produktions- und Verkehrsweise ist.
Jede dieser Entwicklungsstufen der Bourgeoisie war
begleitet von einem entsprechenden politischen Fortschritt. Unterdrückter
Stand unter der Herrschaft der Feudalherren, bewaffnete und sich selbst
verwaltende Assoziation in der Kommune*** hier unabhängige
städtische Republik, dort dritter steuerpflichtiger Stand der Monarchie,
dann zur Zeit der Manufaktur Gegengewicht gegen den Adel in der
ständischen oder in der absoluten Monarchie, Hauptgrundlage der
großen Monarchien überhaupt, erkämpfte sie sich endlich seit
der Herstellung der großen Industdie und des Weltmarktes im modernen
Repräsentativstaat die ausschließliche politische Herrschaft.
***,,Kommune'' nannten sich die in Frankreich entstehenden
Städte, sogar bevor sie ihren feudalen Herrn und Meistern lokale
Selbstverwaltung und politische Rechte als ,,Dritter Stand'' abzuringen
vermochten. Allgemein gesprochen haben wir hier als typisches Land für die
ökonomische Entwicklung der Bourgeoisie England, für ihre politische
Entwicklung Frankreich angeführt. (Anmerkung von Engels zur englischen
Ausgabe von 1888)
Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die
gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.6
6Die gemeinsamen Angelegenheiten der Klasse
der Bourgeois haben sich im Laufe des 20. Jahrhunderts bedeutend ausgedehnt.
Für den Schutz des Systems des kapitalistischen Privateigentums reicht die
Sicherstellung der rechtlichen, politischen (parlamentarischen) und
polizeilichen Gewalt nicht mehr aus. Die Umschiffung von Konflikten, die die
Stabilität des Kapitalverhältnisses gefährden, ist in den Rang
einer gemeinsamen Angelegenheit der Klasse der Bourgeois aufgestiegen. Diesem
Ziel dient der Ausgleich der gesellschaftlichen Unzufriedenheit und die
Neutralisierung rebellischer Energien. Einesteils gehört hierher die
institutionalisierte Organisation der Freizeit der Lohnarbeiter nach dem
Geschmack der Kapitalinteressen, d.h.
die entsprechende Lenkung von Konsum-ansprüchen, Konsumgewohnheiten und
Formen der Unterhaltung (Werbung, Medien). Anderenteils zählt hierzu die
Mäßigung der Unzufriedenheit mit staatlichen Mitteln (Armen- und
Sozialpolitik) bzw. die Unterstützung von Arbeiter-organisationen, die mit
dem kapitalistischen System konform gehen (Gewerk-schaften, die sich
ausschließlich mit Lohnkämpfen beschäftigen).
Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst
revolutionäre Rolle gespielt.7
7Die revolutionäre Rolle der Bourgeoisie hat mit der Entstehung
der Fabriksindustrie ihr Ende gefunden. Sie hat ihre Progressivität
verloren und repräsentiert, gemessen an den Möglichkeiten der
Menschheit, den welt-geschichtlichen Verfall. Die große Industrie beendet
auf gesamtgesellschaftlicher Ebene das Elend, doch weil über die
Verteilung der Güter das kapitalistische Monopoleigentum bestimmt, ist
dies nicht gleichbedeutend mit dem Verschwinden der Not der einzelnen
Individuen. Die große Industrie produziert gesellschaftlichen Reichtum,
doch ist die kapitalistische Epoche von der privaten Aneignung dieses Reichtums
gekennzeichnet. Mit der industriellen Revolution wurde die Alternative einer
humanen Gesellschaft - die Kommunismus genannt wird - sowie die prinzipielle
Möglichkeit geschaffen, daß die
Menschen als gesellschaftliche Wesen - im Gefolge des Zwanges des Kapitals -
ihre entfalteten gesellschaftlichen Kräfte (Produktionsmittel, menschliche
Fähigkeiten) in Besitz nehmen und in ihrem eigenen Interesse zur Anwendung
bringen.
Die Entfaltung der Großindustrie
eröffnet - im Falle vorteilhafter Bedingungen - auch für die
wirtschaftlich zurückgebliebenen Völker die Alternative des
Kommunismus. Im Vorwort der russischen Ausgabe des Kommunistischen Manifestes
von 1882 steht das folgende zu lesen: “Es fragt sich nun: kann die
russische Obschtschina, eine wenn auch stark untergrabene Form des uralten
Gemeinbesitzes am Boden, unmittelbar in die höhere des kommunistischen
Gemeinbesitzes übergehn? Oder muß sie umgekehrt vorher denselben
Auflösungsprozeß durchlaufen, der die geschichtliche Entwicklung des
Westen ausmacht? Die einzige Anwort
hierauf, die heutzutage möglich, ist die: wird die russische Revolution
das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so daß beide
einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden
zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen.“ 1894
analysiert Engels das Problem im weiteren: “Nach dem Sieg des
Proletariats und nach Überführung der Produktionsmittel in
Gemeinbesitz bei den westeuropäischen Völkern, [ist] den
Ländern, die der kapitalistischen Produktion erst eben verfallen und noch
Gentileinrichtungen oder Reste davon gerettet haben, in diesen
Resten von Gemeinbesitz und in den entsprechenden Volksgewohnheiten ein
mächtiges Mittel gegeben, ihren Entwicklungsprozeß zur
sozialistischen Gesellschaft bedeutend abzukürzen und sich den
größten Teil der Leiden und Kämpfe zu ersparen, durch die wir
in Westeuropa uns durcharbeiten müssen. Aber dazu ist das Beispiel und der
aktive Beistand des bisher kapitalistischen Westens eine unumgängliche
Bedingung.“
Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen,
patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört.8
8Im Laufe das 20. Jahrhunderts is häufig
zu beobachten, daß das Kapital auch die patriarchalischen
Gemeinschaftsverhältnisse und vorkapitalistischen Hierarchien, die in den
sich später kapitalisierenden Ländern noch bestehen, in das System
der Profitbildung einbaut.
Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den
Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig
zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelasssen
als das nackte Interesse, als die gefühllose
,,bare Zahlung''. Sie hat die heiligen Schauer der frommen
Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der
spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer
Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den
Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieftfen und
wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie
hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen
Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämtel, direkte,
dürre Ausbeutung gesetzt.
Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und
mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins
entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann
der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.9
9Ja, später machte sie im großen
und ganzen sogar die kritische Intelligenz zu ihren Lohnarbeitern. Mit
verhältnismäßig einträglichen Stellungen befördert
sie solange deren Lebensunterhalt, als sie sich nur mit der theoretischen,
nicht aber mit der praktischen Kritik des Kapitalismus beschäftigen.
Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen
rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines
Geldverhältnis zurückgeführt.
Die Bourgeoisie hat enthüllt, wie die brutale
Kraftäußerung, die die Reaktion so sehr am Mittelalter bewundert, in
der trägsten Bärenhäuterei ihre passende Ergänzung fand.
Erst sie hat bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande bringen
kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden,
römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere
Züge ausgeführt als Völkerwanderungen und Kreuzzüge.
Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die
Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also
sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu
revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war
dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen.
Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene
Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige
Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieepoche vor allen anderen aus.
Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von
altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle
neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles
Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die
Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen
Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.10
10Es tritt auch die dem entgegengesetzte
Tendenz auf, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts verstärkt. Die
bewußte und organisierte Irreführung arbeitet gegen die
nüchterne Betrachtung der existenziellen Situation: eine immer
größere Zahl von Menschen ist institutionell geregelten bzw.
gelenkten Manipulationen ausgesetzt.
Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren
Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze
Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen,
überall Verbindungen herstellen.11
11Der hauptsächlichste wirtschaftliche
Grund für den “Systemwechsel“, zu dem es in den
osteuropäischen Ländern kam, ist der Bedarf des internationalen
Kapitals nach Ausweitung der Märkte, und darin wurde es von den
Parteiführungen vor Ort unterstützt. Die Methode ist die alte: das
Kapital mußte sich einnisten, Verbindungen herstellen und sich
einrichten.
Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des
Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch
gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den
nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die
uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch
täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren
Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird,
durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den
entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate
nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht
werden. An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten
Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder
und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen
und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein
allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen
voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion.
Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die
nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr
unmöglich,12 und aus den
vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.
12Die nationale Einseitigkeit und
Beschränktheit wird in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer
mehr von der kosmopolitischen Einseitigkeit und Beschränkt-heit
abgelöst. Im Prozeß der sog. Globalisierung führt dieser
Kosmopolitismus zu einer starken Amerikanisierung.
Die Bourgeoisie reißt durch die rasche
Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten
Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die
wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle
chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den
hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt.13
13Auf der anderen Seite reproduziert die
bourgeoise Ordnung den Fremdenhaß auf erweiterter Stufenleiter. Denn sie
beraubt die Massen ihrer traditionellen Lebensmöglichkeiten, und durch die
Ausbeutung der auf diese Weise verbilligten Arbeitskraft wird das Land
wirtschaftlich ausgeplündert. Der Radikalismus der spontanen
antikapitalistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, so die Formen des
religiösen Fundamentalismus und die Aktivitäten terroristischer
Gruppierungen, sind der Ausbreitung des Kapitalismus zuzuschreiben.
Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der
Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehn wollen; sie zwingt
sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem
Worte, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.14
14Diesen Vorgang vervollständigt die
Globalisierung der Epoche des Endes des 20. Jahrhunderts. Heute haben
multinationale Unternehmen und transnationale Kapitale die gesamte
Weltwirtschaft umfangen. Der Kapitalismus verbreitet nicht nur
Produktionstechniken und Warentypen überall auf der Welt, sondern auch
Wertesysteme, Konsumgewohnheiten und Lebensformen. Er globalisiert
gleicher-maßen eine früher unbekannte Art der Fülle und eine
früher unbekannte Not.
Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft der
Städte unterworfen. Sie hat enorme Städte geschaffen, sie hat die
Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen
in hohem Grade vermehrt und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem
Idiotismus des Landlebens entrissen. Wie sie das Land von der Stadt, hat sie
die barbarischen und halbbarbarischen Länder von den zivilisierten, die
Bauernvölker von den Bourgeoisvölkern, den Orient vom Okzident
abhängig gemacht.15
15Im kapitalistischen Weltsystem hat sich eine
scharfe wirtschaftliche und darauf aufbauende machtpolitische Hierarchie
zwischen den sog. Zentren und den Ländern der Peripherie und
Semiperipherie (bzw., in
anderem Duktus, zwischen dem industriell entwickelten “Norden“ und
dem zurückgebliebenen “Süden“) heraus-gebildet. Das
Zentrum mäßigt seine eigenen gesellschaftlichen Spannungen mithilfe
der Ausbeutung der Länder der Peripherie und Semiperipherie. Des weiteren
streben die Zentren danach, den übrigen Ländern ihre eigenen inneren
Konflikte aufzuladen (siehe Warenüberfluß, Ableitung von
überflüssigem Kapital, Umsiedlung von ökologisch
schädlichen Industriezweigen, Abladung von gefährlichem Müll).
Internationale politische Organisationen (UNO), militärische
Organisationen (NATO) und wirtschaftlich-finanzpolitische Institutionen (IWF)
dienen der Aufrechterhaltung der Hierarchie zwischen Zentrum und Peripherie
bzw. der Verringerung von Konflikten, die sich aus dieser Hierarchie ergeben.
Die internationale Unterworfenheit aber bringt Widerstand hervor. Die
Länder des Zentrums und ihre Institutionen können diesen Prozeß
nicht kontrollieren, und die Situation löst verzweifelte Unruhen und
Aufstände aus. Die Erscheinung der Überproduktion besteht auch heute.
Für die Massenarbeitslosigkeit gibt es keine Lösung. Waffenproduktion
und Waffenhandel bringen nicht nur Profite, sondern haben auch ungeplante
Konsequenzen: die in den Ländern des Zentrums hergestellten Waffen werden
auch gegen die Zentren genutzt (Bombenattentate, terroristische Aktionen).
Freilich ist letzteres nur für die Opfer solcher Aktionen von Nachteil.
Für die Kapitalisten und ihre politisch-ideologischen Vertreter bringt der
internationale Terrorismus in verschiedener Hinsicht auch Vorteile. Der
Terrorist zerstört nicht nur, sondern schafft dadurch einen Markt, dessen
wirtschaftlicher Ertrag der Profit ist, welcher aus dem Waffenverkauf und dem
auf die Zerstörung folgenden Wiederaufbau stammt. Der politische Ertrag
des Terrorismus besteht darin, daß er die Bildung und Aufrechterhaltung
eines Feindbildes ermöglicht, welches die Aufmerksamkeit ablenkt vom
unversöhnlichen Konflikt zwischen Kapitalisten und Lohnarbeitern (als den
Erhaltenen und den Erhaltenden).
Die Bourgeoisie hebt mehr und mehr die
Zersplitterung der Produktionsmittel, des Besitzes und der Bevölkerung
auf. Sie hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel
zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert. Die
notwendige Folge hiervon war die politische Zentralisation. Unabhängigel,
fast nur verbündete Provinzen mit verschiedenen Interessen, Gesetzen,
Regierungen und Zöllen wurden zusammengedrängt in eine Nation, eine
Regierung, ein Gesetz, ein nationales Klasseninteresse, eine Douanenlinie.16
16Später erstarkt der Nationalstaat und
wird zur politischen Verkörperung eines nationalen Gesamtkapitals, dessen
Struktur und Logik über die unmittelbaren Interessen der einzelnen
Privatkapitalisten hinausgeht. In der Periode des staatlichen
Monopolkapitalismus wird der Staat zum größten Kapitalisten des
Landes und der Nation (zum größten Arbeitgeber, zur
größten handelstreibenden Einheit und zum größten
Einkäufer). Das Ende des 20. Jahrhunderts ist von der Schwächung der
wirtschaftichen und politischen Macht des Nationalstaates gekennzeichnet:
gegenüber der wirtschaftlichen Stärke der multinationalen Unternehmen
bzw. der wirtschaftlichen und politischen Stärke der verschiedenen
internationalen Organisationen wird das nationale Klasseninteresse abgewertet.
Komplizierter ist die Beurteilung der internationalen Integrationsprozesse. Zum
Beispiel wird das Klasseninteresse des nationalen Kpaitals durch den Beitritt
zur Europäischen Union unmittelbar verletzt. Zugleich schützt die
internationale Organisation des Kapitals die nationale Bourgeoisie (sowie ihre
wirtschaftlichen und politischen Eliten) vor ihren eigenen Lohnarbeitern.
Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum
hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere
Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen.
Unterjochung der Naturkräfte,17
Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt,
Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile,
Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte
Bevölkerungen - welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche
Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit
schlummerten.
17Später machen Marx und Engels auf jene
Gefahren aufmerksam, die der kapitalistischen Unterjochung der Naturkräfte
innewohnen.
Wir haben also gesehn: Die Produktions- und
Verkehrsmittel, auf deren Grundlage sich die Bourgeoisie heranbildete, wurden
in der feudalen Gesellschaft erzeugt. Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung dieser
Produktions- und Verkehrsmittel entsprachen die Verhältnisse, worin die
feudale Gesellschaft produzierte und austauschte, die feudale Organisation der
Agrikultur und Manufaktur, mit einem Wort die feudalen
Eigentumsverhältnisse den schon entwickelten Produktivkräften nicht
mehr. Sie hemmten die Produktion, statt sie zu fördern. Sie verwandelten
sich in ebenso viele Fesseln. Sie mußten gesprengt werden, sie wurden
gesprengt. An ihre Stelle trat die freie Konkurrenz18 mit der ihr
angemessenen gesellschaftlichen und politischen Konstitution, mit der
ökonomischen und politischen Herrschaft der Bourgeoisklasse.
18Genauer: die freie Konkurrenz für jene,
die über Eigentum verfügen. Im System der freien Konkurrenz beruht
diese Konkurrenz in Wirklichkeit auf der gesellschaftlichen Ungleichheit der
Chancen. Dies gilt aus zwei Gründen. Zum einen baut dieses Sytem auf der
Hierarchie der Eigentümer und der Eigentumslosen auf. Zum anderen
gründet es in der Hierarchie zwischen den Eigentümern: es bedeutet
Wettbewerb und Kampf zwischen Eigentum verschiedener Größe und
Stärke. Deshalb wird die Epoche der freien Konkurrenz notwendigerweise von
der Epoche des Monopolkapitals abgelöst.
Unter unsern Augen geht eine ähnliche Bewegung
vor. Die bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse, die
bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche
Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert
hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu
beherrschen vermag, die er heraufbeschwor. Seit Dezennien ist die Geschichte
der Industrie und des Handels nur die Geschichte der Empörung der modernen
Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die
Eigentumsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Bourgeoisie und
ihrer Herrschaft sind. Es genügt, die Handelskrisen zu nennen, welche in
ihrer periodischen Wiederkehr immer drohender die Existenz der ganzen
bürgerlichen Gesellschaft in Frage stellen. In den Handelskrisen wird ein großer
Teil nicht nur der erzeugten Produkte, sondern der bereits geschaffenen
Produktivkräfte regelmäßig vernichtet. In den Krisen bricht
eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein
Widersinn erschienen wäre - die Epidemie der Überproduktion. Die
Gesellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei
zurückversetzt; eine Hungersnot, ein allgemeiner Vernichtungskrieg
scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben; die Industrie, der
Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zuviel Zivilisation, zuviel
Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt. Die
Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehen, dienen nicht mehr zur
Beförderung der bürgerlichen Zivilisation und der bürgerlichen
Eigentumsverhältnisse; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig für diese
Verhältnisse geworden, sie werden von ihnen gehemmt; und sobald sie dies
Hemmnis überwinden, bringen sie die ganze bürgerliche Gesellschaft in
Unordnung, gefährden sie die Existenz des bürgerlichen Eigentums. Die
bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen
erzeugten Reichtum zu fassen.19
19Das Kapital - so formuliert Marx später
- ist „der lebendige Widerspruch“:
“während es die Tendenz hat, die Produktivkräfte ins
Maßlose zu steigern“, vereinseitigt und limitiert es “die
Hauptproduktivkraft, den Menschen selbst“ und hat schließlich
“überhaupt die Tendenz ..., die
Produktivkräfte zu beschränken“. Im Kapitalismus geschieht es
“nur durch die ungeheuerste Verschwendung von individueller Entwicklung,
daß die Entwicklung der Menschheit überhaupt gesichert und
durchgeführt wird“. Worin kann nun eine wirtschaftliche Alternative
bestehen, die die Entwicklung nicht beschränkt? Dies wäre eine
Gesellschaft, deren “Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes
Individuums ist“, eine Gesellschaft also, die die Arbeitszeit auf das
gegebene Niveau das Masses an Bedürfnissen herabdrückt, um damit die
Freizeit der Individuen zu vergrößern. “Die Ersparung von
Arbeitszeit“ ist zugleich “Vermehren der freien Zeit, d.h. Zeit für die volle
Entwicklung des Individuums, die selbst wieder als die größte
Produktivkraft zurückwirkt auf die Produktivkraft der Arbeit“. Nach
Marx führt es daher zu humanen Konsequenzen, wenn die Hindernisse der Entfaltung
der Produktivkräfte beiseitegeschafft werden: dies ist gleichbedeutend mit
der Befreiung der hauptsächlichen Produktivkraft, also des Menschen, von
der Herrschaft des Kapitals. Darum schreibt Marx, daß “die volle
Entwicklung der Individualität“, die “freie
Individualität“ grundlegendes Erkennungszeichen des Kommunismus ist.
Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen?
Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von
Produktivkräften; andererseits durch die Eroberung neuer Märkte und
die gründlichere Ausbeutung alter Märkte.20
20Sowohl die Eroberung neuer Märkte wie
auch die gründlichere Ausschlachtung der alten verlangt neben den
wirtschaftlichen auch nicht-wirtschaftliche, d.h. direkt
politische Mittel. Die Eroberung neuer Märkte bedeutet in letzter Linie
wirtschaftliche Kolonialisierung, also die gewalttätige Schaffung von
Extraprofit in Regionen, die sich in nachteiliger wirtschaftlicher Lage
befinden. Die Erweiterung der inneren Märkte geht mit feineren Mitteln vor
sich. Hier wird Marktnachfrage in bedeutendem Maße so organisiert,
daß sich unnütze Waren in notwendige verwandeln. Im Wege der
organisierten Manipulation der Konsumbedürfnisse weden die Spannungen, die
sich aus der Überproduktion ergeben, gemindert. Die freie Marktwirtschaft
wird vom staatlich geregelten Markt (von einer Marktwirtschaft, die die
staatlichen und die Marktgesetze miteinander verschmilzt) abgelöst. Dies
bremst die Ausnutzung und Entwicklung der Produktivkräfte und sorgt
zugleich dafür, daß dieselben sich weiter innerhalb des Rahmens der
eigentlich bereits inadäquat gewordenen kapitalistischen Verhältnisse
bewegen. Im Interesse der Dämpfung der gesellschaftlich-politischen
Spannungen und der Verhinderung der politischen Radikalisierung der Lohnarbeiterschaft
versucht der kapitalistische Staat formale Rechte und praktische Lebenschancen
(das sog. “Lebensniveau“) sicherzustellen, und dies führt
kurzfristig dazu, daß auch die wirtschaftlich ausgebeuteten Lohnarbeiter
ein Interesse am Fortbestehen des Systems entwickeln.Wegen alledem hat das Kapital seine eigene Freiheit,
die Gier der Einzelkapitale, im Interesse des Gesamtkapitals (der Gesamtheit
der Kapitalistenklasse) und insbesondere im Interesse der dauerhaften
Funktionsfähigkeit des kapitalistischen Systems und seiner politischen
Stabilität beschränkt.
Zur politischen Stabilisierung des
Zentrumskapitalismus trug die eigentümlich ambivalente Lage seiner
Lohnarbeiterschaft, die gleichzeitig ausgebeutet und Mitkonsument des
kapitalistischen Mehrwertes ist, bedeutend bei. Die Mitglieder der
Arbeiterklasse der Zentrumsländer sind einesteils Lohnarbeiter, und
zugleich haben sie andernteils, als Bürger der ausbeutenden Nation, auf
der Grundlage staatsbürgerlicher Rechte an jenem Profit teil, der in den
wirtschaftlich schwächeren Nationen geschaffen wird. Sie unterhalten mit
ihrer Arbeitskraft die Kapitalistenklasse und deren nicht-produktive
Beschäftigte und werden zugleich selbst vom Proletariat der ausgebeuteten
Nationen erhalten. Im Dilemma des ambivalenten Interesses (Klasseninteresse und
unmittelbares materielles Wohlergehen) siegt zumeist das letztere - und dies
führt zum faktischen Ausgleich mit dem kapitalistischen System, zum
politischen Klassenkompromiß.
Wodurch also? Dadurch, daß sie allseitigere und
gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen,
vermindert. Die Waffen, womit die Bourgeoisie den Feudalismus zu Boden
geschlagen hat, richtet sich jetzt gegen die Bourgeoisie selbst.21
21Die Erscheinung der Überproduktion -
und damit die letzte theoretische Grundlage der Überproduktionskrise -
besteht unverändert fort. Allerdings hat es die Bourgeoisie in der Periode
nach dem Zweiten Weltkrieg - einerseits durch die Manipulation des
Massenkonsums, andererseits durch den politischen Eingriff der internationalen
Organisationen in das Marktgeschehen - vermieden, daß sich eine das
System lähmende Krise hätte herausbilden können. Zugleich wurde
aber bereits Engels auf die Quellen neuer Spannungen aufmerksam: auf das
spekulative Kapital, auf die intermediäre Krise, die auf die Hochstapelei
der Börse zurückzuführen ist.
Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen
geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die
diese Waffen führen werden - die modernen Arbeiter, die Proletatier.
In demselben Maße, worin sich die Bourgeoisie, d.h. das Kapital, entwickelt, in
demselben Maße entwickelt sich das Proletariat, die Klasse der modernen
Arbeiter, die nur solange leben, als sie Arbeit finden, und die nur so lange
Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapital vermehrt. Diese Arbeiter, die sich
stückweis verkaufen müssen, sind eine Ware wie jeder andere
Handelsartikel und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der
Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt.
Die Arbeit der Proletarier hat durch die Ausdehnung
der Maschinerie und die Teilung der Arbeit allen selbständigen Charakter
und damit allen Reiz für die Arbeiter verloren. Er wird ein bloßes
Zubehör der Maschine, von dem nur der einfachste, eintönigste, am
leichtesten erlernbare Handgriff verlangt wird. Die Kosten, die der Arbeiter
verursacht, beschränken sich daher fast nur auf die Lebensmittel, die er
zu seinem Unterhalt und zur Fortpflanzung seiner Race bedarf.22
22Später untersucht Marx die Frage der
Lohnhöhe detaillierter und nuancierter - und weist - unter anderem - auf
das folgende hin: 1. Das Minimum der in Gestalt des Arbeitslohnes bezahlten,
zum Lebensunterhalt notwendigen Mittel paßt sich den örtlichen
Gebräuchen an und ist deshalb sehr unterschiedlich. 2. Der Lohn der
Arbeiter ist nicht unabhängig von den Ergebnissen des Klassenkampfes. 3.
Auch in den Konsum der Arbeiter finden Luxusgüter Eingang. 4. Die
Klassenlage des Lohnarbeiters bleibt die gleiche, wieviel auch immer sein Lohn
beträgt.
Der Preis einer Ware, also auch der Arbeit,23 ist aber
gleich ihren Produktionskosten.
23Nachdem er seine Arbeitswerttheorie
ausgearbeitet hatte, tauschte Marx den in der zeitgenössischen
Volkswirtschaftlehre gebrauchten Begriff des “Preises der Arbeit“
durch den Ausdruck “Preis der Arbeitskraft“ aus.
In demselben Maße, in dem die
Widerwärtigkeit der Arbeit wächst, nimmt daher der Lohn ab. Noch
mehr, in demselben Maße, wie Maschinerie und Teilung der Arbeit zunehmen,
in demselben Maße nimmt auch die Masse der Arbeit zu, sei es durch
Vermehrung der Arbeitsstunden, sei es durch Vermehrung der in einer gegebenen
Zeit geforderten Arbeit, beschleunigten Lauf der Maschinen usw.
Die moderne Industrie hat die kleine Werkstube des
patriarchalischen Meisters in die große Fabrik des industriellen
Kapitalisten verwandelt. Arbeitermassen, in der Fabrik zusammengedrängt,
werden soldatisch organisiert. Sie werden als gemeine Industriesoldaten unter
die Aufsicht einer vollständigen Hierarchie von Unteroffizieren und
Offizieren gestellt. Sie sind nicht nur Knechte der Bourgeoisklasse, des
Bourgeoisstaates, sie sind täglich und stündlich geknechtet von der
Maschine, von dem Aufseher und vor allem von den einzelnen fabrizierenden
Bourgeois selbst. Diese Despotie ist um so kleinlicher, gehässiger,
erbitterter, je offener sie den Erwerb als ihren Zweck proklamiert. Je weniger
die Handarbeit Geschicklichkeit und Kraftäußerung erheischt, d.h. je mehr die moderne Industrie
sich entwickelt, desto mehr wird die Arbeit der Männer durch die der
Weiber und Kinder verdrängt.24
24Die englische Ausgabe von 1888 verzichtet
auf den Verweis auf die Kinderarbeit. Am Ende des 20. Jahrhunderts ist die
massenhafte Kinderarbeit - in den in starker Kapitalisierung begriffenen
Ländern - wieder zu einer gewohnten Erscheinung geworden.
Geschlechts- und Altersunterschiede haben keine
gesellschaftliche Geltung mehr für die Arbeiterklasse. Es gibt nur noch
Arbeitsinstrumente, die je nach Alter und Geschlecht verschiedene Kosten
machen.
Ist die Ausbeutung des Arbeiters durch den Fabrikanten
so weit beendigt, daß er seinen Arbeitslohn bar ausgezahlt erhält, so
fallen die andern Teile der Bourgeoisie über ihn her, der Hausbesitzer,
der Krämer, der Pfandleiher usw. Die bisherigen kleinen Mittelstände,
die kleinen Industriellen, Kaufleute und Rentiers, die Handwerker und Bauern,
alle diese Klassen fallen ins Proletariat hinab,25 teils dadurch, daß ihr kleines Kapital
für den Betrieb der großen Industrie nicht ausreicht und der
Konkurrenz mit den größeren Kapitalisten erliegt, teils dadurch,
daß ihre Geschicklichkeit von neuen Produktionsweisen entwertet wird. So rekrutiert
sich das Proletariat aus allen Klassen der Bevölkerung.
25Im 20. Jahrhundert ist es der Staat, der
einen bedeutenden Teil jener Schichten beschäftigt, die ihr Eigentum
verloren haben und ohne eigenständige Quelle des Lebensunterhaltes in die Lage
von Lohnarbeitern gelangt sind. Sie werden als staatliche Beamte zu
angestellten Lohnarbeitern des kapitalistischen Staates.
Das Proletariat macht verschiedene Entwicklungsstufen
durch. Sein Kampf gegen die Bourgeoisie beginnt mit seiner Existenz.
Im Anfang kämpfen die einzelnen Arbeiter, dann
die Arbeiter einer Fabrik, dann die Arbeiter eines Arbeitszweiges an einem Ort
gegen den einzelnen Bourgeois, der sie direkt ausbeutet. Sie richten ihre
Angriffe nicht nur gegen die bürgerlichen Produktionsverhältnisse,
sie richten sie gegen die Produktionsverhältnisse selbst; die vernichten
die fremden konkurrierenden Waren, sie zerschlagen die Maschinen, sie stecken
die Fabriken in Brand, sie suchen die untergegangene Stellung des mittel-
alterlichen Arbeiters wiederzuerringen.
Auf dieser Stufe bilden die Arbeiter eine über
das ganze Land zerstreute und durch die Konkurrenz zersplitterte Masse.
Massenhaftes Zusammenhalten der Arbeiter ist noch nicht die Folge ihrer eigenen
Vereinigung, sondern die Folge der Vereinigung der Bourgeoisie, die zur
Erreichung ihrer eigenen politischen Zwecke das ganze Proletariat in Bewegung
setzen muß und es einstweilen noch kann. Auf dieser Stufe bekämpfen
die Proletarier also nicht ihre Feinde, sondern die Feinde ihrer Feinde, die
Reste der absoluten Monarchie, die Grundeigentümer, die nichtindustrielle
Bourgeoisie, die Kleinbürger. Die ganze geschichtliche Bewegung ist so in
den Händen der Bourgeoisie konzentriert; jeder Sieg, der so errungen wird,
ist ein Sieg der Bourgeoisie.26
26Die Situation wiederholt sich in den im
Kampf um neue Märkte ausgefochtenen internationalen
Zusammenstößen (Weltkriege etc.), wo die Proletarier nicht gegen
ihre eigenen Feinde, sondern gegen die Feinde ihrer Feinde (also gegen die ausländischen
nationalen Bourgeoisien) kämpfen und so ihr Sieg der Sieg der Bourgeoisie
ist. Der Zusammenstoß von Faschismus und
kapitalistischer Demo-kratie ist der Kampf zwischen zwei Richtungen der
Bourgeoisie.
Aber mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich
nicht nur das Proletariat; es wird in größeren Massen
zusammengedrängt, seine Kraft wächst, und es fühlt sie mehr. Die
Interessen, die Lebenslagen innerhalb des Proletariats gleichen sich immer mehr
aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt
und den Lohn fast überall auf ein gleich niedriges Niveau
herabdrückt. Die wachsende Konkurrenz der Bourgeoisie unter sich und die
daraus hervorgehenden Handelskrisen machen den Lohn der Arbeiter immer
schwankender; die immer rascher sich entwickelnde, unaufhörliche
Verbesserung der Maschinerie macht ihre ganze Lebensstellung immer unsicherer;
immer mehr nehmen die Kollisionen zwischen dem einzelnen Arbeiter und dem
einzelnen Bourgeois den Charakter von Kollisionen zweier Klassen an. Die
Arbeiter beginnen damit, Koalitionen gegen die Bourgeios zu bilden; sie treten
zusammen zur Behauptung ihres Arbeitslohns. Sie stiften selbst dauernde
Assoziationen, um sich für die gelegentlichen Empörungen zu
verproviantieren. Stellenweis bricht der Kampf in Emeuten aus.
Von Zeit zu Zeit siegen die Arbeiter, aber nur
vorübergehend. Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der
unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der
Arbeiter. Sie wird befördert durch die wachsenden Kommunikationsmittel,
die von der großen Industrie erzeugt werden und die Arbeiter der
verschiedenen Lokalitäten miteinander in Verbindung setzen. Es bedarf aber
bloß der Verbindung, um die vielen Lokalkämpfe von überall
gleichem Charakter zu einem nationalen, zu einem Klassenkampf zu
zentralisieren. Jeder Klassenkampf ist aber ein politischer Kampf. Und die
Vereinigung, zu der die Bürger des Mittelalters mit ihren Vizinalwegen
Jahrhunderte bedurften, bringen die modernen Proletarier mit den Eisenbahnen in
wenigen Jahren zustande.
Diese Organisation der Proletarier zur Klasse, und
damit zur politschen Partei,27
wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern
selbst.
27Die Bezeichnung “politische
Partei“ bedeutet in dem Sprachgebrauch, der hier zur Anwendung kommt,
nicht eine den staatlichen Regelungen angepaßte Institution, sondern eine
Bewegung, die ihren eigenen Gesetzen folgt.
Aber sie ersteht immer wieder, stärker, fester, mächtiger.
Sie erzwingt die Anerkennung einzelner Interessen der Arbeiter in Gesetzesform,
indem sie die Spaltungen der Bourgeoisie unter sich benutzt.28
28Für das 20. Jahrhundert ist es
bezeichnender, daß die Bourgeoisie die Spaltungen innerhalb des Proletariates
ausnützt und mit staatlich abgesegneten Gesetzen die Anerkennung ihrer
Interessen und die Konservierung der kapitalistischen Strukturen sicherstellt.
So die Zehnstundenbill in England.29
29“Die Zehnstundenbill“ -
formuliert Marx - “war der Sieg eines Prinzips: Sieg der politischen
Ökonomie der Arbeit über die politische Ökonomie des
Kapitals“. Anders als die Lohnkämpfe, die innerhalb des Rahmens des
kapitalistischen Systems verbleiben, hebt die Beschränkung der Arbeitszeit
und die damit wachsende Freizeit den Arbeiter zum Teil aus der Gefangenschaft
des Kapitalverhältnisses heraus. Darin liegen die “großen
physisichen, moralischen und geistigen Vorteile“ begründet,
“die den Fabriksarbeitern aus dieser Maßregel erwuchsen“.
Diese Interpretation setzt allerdings die wirklich freie Nutzung der freien
Zeit voraus. Die Kommerzialisierung der Freizeit der Arbeiter im 20.
Jahrhundert, d.h. die
Tatsache, daß diese zum Teil des Verwertungsprozesses des Kapitals
gerinnt, macht diese Möglichkeit jedoch zunichte: sie dehnt die Hoheit des
Kapitals auch auf die freie Zeit der Individuen aus.
Die Kollisionen der alten Gesellschaft überhaupt fördern mannigfach den Entwicklungsgang des Proletariats. Die Bourgeoisie befindet sich in fortwährendem Kampfe: anfangs gegen die Aristokratie; später gegen die Teile der Bourgeiosie selbst, deren Interessen mit dem Fortschritt der Industrie in Widerspruch geraten; stets gegen die Bourgeoisie aller auswärtigen Länder. In allen diesen Kämpfen sieht sie sich genötigt, an das Proletariat zu appellieren, seine Hülfe in Anspruch zu nehmen und es so in die politische Bewegung hineinzureißen. Sie selbst führt also dem Proletariat ihre eigenen Bildungselemente, d.h. Waffen gegen sich selbst, zu.
Es werden ferner, wie wir sahen, durch den
Fortschritt der Industrie ganze Bestandteile der herrschenden Klasse ins
Proletariat hinabgeworfen oder wenigstens in ihren Lebensbedingungen bedroht.
Auch sie führen dem Proletariat eine Masse Bildungselemente zu.
In Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der
Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozeß innerhalb der
herrschenden Klasse, innerhalb der ganzen alten Gesellschaft, einen so
heftigen, so grellen Charakter an, daß ein kleiner Teil der herrschenden
Klasse sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse
anschließt, der Klasse, welche die Zukunft in ihren Händen
trägt. Wie daher früher ein Teil des Adels zur Bourgeoisie
überging, so geht jetzt ein Teil der Bourgeoisie zum Proletariat
über, und namentlich ein Teil der Bourgeoisideologen, welche zum
theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich
hinauf-gearbeitet haben.30
30Häufiger ist der dem entgegengesetzte
Prozeß, wenn Menschen in proletarischer Lage den bourgeoisen Standpunkt
vertreten. Sie verstärken mit ihrem Wertsystem und ihren verschiedenen
Bestrebungen das kapitalistische System und schlagen sich damit bewußt
oder unbewußt auf die Seite der Bourgeoisie.
Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie
gegenüberstehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre
Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehen unter mit der großen
Industrie, das Proletariat ist ihr eigenstes Produkt.
Die Mittelstände, der kleine Industrielle, der kleine
Kaufmann, der Handwerker, der Bauer, sie alle bekämpfen die Bourgeoisie,
um ihre Existenz als Mittelstände vor dem Untergang zu sichern.31
31In den Ländern des Zentrums ist es
einem bedeutenden Teil der Mittelschichten gelungen, weiterhin als Kleineigentümer
zu existieren. Der Grund dafür liegt darin, daß sich die
Ausdehnungsbestrebungen des Großkapitals, seine die Bevölkerung
proletarisierende Tendenz vom nationalen Markt weg- und in die weniger
entwickelten und deshalb billigere Arbeitskräfte und größeren
Profit bietenden Regionen verlagert hat. Die durch seine Gier Geschädigten
sind die dortigen Kleineigentümer. In globaler Perspektive geht der
Prozeß der Proletarisierung schwungvoll weiter: heute gibt es
unvergleichlich mehr Lohnarbeiter auf der Erde als vor 150 Jahren.
Sie sind also nicht revolutionär, sondern
konservativ. Noch mehr, sie sind reaktionär, sie suchen das Rad der
Geschichte zurückzudrehen. Sind sie revolutionär, so sind sie es im
Hinblick auf den ihnen bevorstehensen Übergang ins Proletariat, so
verteidigen sie nicht ihre gegenwärtigen, sondern ihre zukünftigen
Interessen, so verlassen sie ihren eigenen Standpunkt, um sich auf den des
Proletariats zu stellen.
Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der
untersten Schichten der alten Gesellschaft, wird durch eine proletarische
Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen
Lebenslage nach wird es bereitwilliger sein, sich zu reaktionären
Umtrieben erkaufen zu lassen.32
32Marx unterscheidet später zwischen dem
gemeinen und dem vornehmen Lumpen-proletariat. Das gemeinsame Charakteristikum
besteht darin, daß beide Gruppen danach streben, daß ihnen
finanzielle Mittel zum Geschenk gemacht und ausgeliehen werden.
Die Lebensbedingungen der alten Gesellschaft sind
schon vernichtet in den Lebensbedingungen des Proletariats. Der Proletarier ist
eigentumslos; sein Verhältnis zu Weib und Kindern hat nichts mehr gemein
mit dem bürgerlichen Familienverhältnis; die moderne industrielle
Arbeit, die moderne Unterjochung unter das Kapital, dieselbe in England wie in
Frankreich, in Amerika wie in Deutschland, hat ihm allen nationalen Charakter
abgestreift. Die Gesetze, die Moral, die Religion sind für ihn ebenso
viele bürgerliche Vorurteile, hinter denen sich ebenso viele
bürgerliche Interessen verstecken.
Alle früheren Klassen, die sich die Herrschaft
eroberten, suchten ihre schon erworbene Lebensstellung zu sichern, indem sie
die ganze Gesellschaft den Bedingungen ihres Erwerbs unterwarfen. Die
Proletarier können sich die gesellschaftlichen Produktivkräfte nur
erobern, indem die ihre eigene bisherige Aneignungsweise und damit die ganze
bisherige Aneignungsweise abschaffen. Die Proletarier haben nichts von dem
Ihrigen zu sichern, sie haben alle bisherigen Privatsicherheiten und
Privatversicherungen zu zerstören.33
33Namentlich: sie müssen jede
privilegierte, auf Vorrechten beruhende Sicherheit abschaffen. Das heißt,
sie müssen die private Sicherheit derer, die Sonderrechte genießen,
abschaffen, damit die öffentliche Sicherheit, die Existenzsicherheit von
allen realisiert werden kann.
Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von
Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische
Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im
Interesse der ungeheuren Mehrzahl.34
34Das Ziel der Proletarierbewegung ist die
Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums in gesellschaftliches
Eigentum. Aus den bereits erwähnten Gründen strebt nur ein Teil der Mehrheit
der Lohnarbeiter der Zentrumsländer nach diesem Ziel. Im Weltmaßstab
allerdings tritt die überwältigende Mehrheit der Lohn-arbeiterschaft
instinktiv oder bewußt bzw. mit nicht selten sehr abweichenden konkreten
Zielen gegen das kapitalistische Eigentum auf.
Das Proletariat, die unterste Schichte der jetzigen
Gesellschaft, kann sich nicht erheben, nicht aufrichten, ohne daß der
ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in
die Luft gesprengt wird.
Obgleich nicht dem Inhalt, ist die Form nach der Kampf
des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das
Proletariat eines jeden Landes muß natürlich zuerst mit seiner
eigenen Bourgeoisie fertig werden.35
35Im Zeitalter der multinationalen Unternehmen
bedeutet dies, daß die Lohnarbeiter eines jeden Landes in erster Linie
gegen das sie unmittelbar unterdrückende Kapital auftreten müssen.
Indem wir die allgemeinsten Phasen der Entwicklung des
Proletariats zeichneten, verfolgten wir den mehr oder minder versteckten
Bürgerkrieg innerhalb der bestehenden Gesellschaft bis zu dem Punkt, wo er
in eine offene Revolution ausbricht und durch den gewaltsamen Sturz der
Bourgeoisie das Proletariat seine Herrschaft begründet.36
36Zwischen den beiden großen gesellschaftlichen
Klassen spielt sich von Anfang an ein “verborgener
Bürgerkrieg“ ab. Jedoch stellt die unpersönliche
marktwirtschaft-liche Macht (die Macht der Dinge) über jeden Menschen ein
wesentlicheres Charakteristikum des Kapitalismus dar als die Macht der Kapitalisten
über die Lohnarbeiter. Erstere ist die letzte Grundlage der letzteren.
Deshalb umfaßt der “verborgene Bürgerkrieg“ eine
allgemeinere Dimension als der Widerspruch von Kapital und Arbeit: letztlich
bekämpfen sich hier eine unpersönliche (institutionelle)
Rationalität und eine persönliche, menschliche Rationalität.
Alle bisherige Gesellschaft beruhte, wie wir gesehn
haben, auf dem Gegensatz unterdrückender und unterdrückter Klassen.
Um aber eine Klasse unterdrücken zu können, müssen ihr Bedingungen
gesichert sein, innerhalb derer sie wenigstens ihre knechtische Existenz
fristen kann. Der Leibeigene hat sich zum Mitglied der Kommune in der
Leibeigenschaft herangearbeitet wie der Kleinbürger zum Bourgeois unter
dem Joch des feudalistischen Absolutismus. Der moderne Arbeiter dagegen, statt
sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die
Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der
Pauperismus entwickelt sich noch schneller als Bevölkerung und Reichtum.37
37Im Weltmaßstab besteht die
pauperisierende Tendenz des Kapitalismus unver-ändert fort. Die
ärmere Hälfte der Menschheit (2,5
Milliarden Menschen) verfügt über ein Jahreseinkommen, das in der
Summe kleiner ist als die 350 größten Privatvermögen. Die Zahl
derer, die täglich verhungern, wird auf 20.000 bis 40.000 Menschen geschätzt.
Es tritt hiermit offen hervor, daß die
Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der
Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft
als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie
unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei
zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo
sie ihn ernähren muß, statt von ihm ernährt zu werden.38
38Der staatliche Unterhalt der Arbeitslosen,
die das kapitalistische Sytem produziert, verringert den Reingewinn der
Kapitalisten. Hinzu kommt die symbolische Unter-stützung jener Bewohner
der “Dritten Welt“, die im Gefolge des kapitalistischen Eindringens
der Zentrumsländer die Quellen des Lebensunterhaltes verloren haben.
Die Gesellschaft kann nicht mehr unter ihr leben, d.h. ihr Leben ist nicht mehr
verträglich mit der Gesellschaft.
Die wesentliche Bedingung für die Existenz und
für die Herrschaft der Bourgeoisklasse ist die Anhäufung des
Reichtums in den Händen von Privaten, die Bildung und Vermehrung des
Kapitals; die Bedingung des Kapitals ist die Lohnarbeit. Die Lohnarbeit beruht
ausschließlich auf der Konkurrenz der Arbeiter unter sich. Der
Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und widerstandsloser Träger
die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die
Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation.39
391843 erkannte Marx, daß die
Tätigkeit des politischen Staates keine unabhängige ist, sondern in
letzter Instanz die Spannungen und Bewegungen der Zivilgesellschaft
widerspiegelt. Die dem politischen Staat gegenübertretende
Zivilgesellschaft entstand aus den gesellschaftlichen Verbindungen zwischen den
Individuen, die aus ihren ständischen Bindungen herausgetreten waren. Die
Zivilgesellschaft des kapitalistischen Systems ist im wesentlichen durch die
wirtschaftlichen Beziehungen von einander als Wettbewerbsteilnehmer
gegenübertretenden Individuen, durch die Beziehungen von mit dem Tausch
befaßten Menschen gekennzeichnet. Es handelt sich nicht um eine
Gemeinschaft von Individuen, sondern um eine Waren- und Geldgemeinschaft. Die
“Tugend des Geldmenschen“ ist “die Verachtung des Menschen
als Selbstzweck“. Die Emanzipation der Menschheit realisiert sich
für Marx in der den Kapitalismus überschreitenden Möglichkeit
der Zivilgesellschaft. Diese
Zivilgesellschaft ist gleichbedeutend mit der Assoziation und unmittelbaren
Kooperation der Menschen im Interesse der Befriedigung ihrer
Bedürf-nisse.Voraussetzung dafür ist, daß der “wirkliche
individuelle Mensch seine ‘forces propres’ als gesellschaftliche
Kraft erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht
mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt“ und daß
der Mensch die ihm eigenen gesellschaftlichen Kräfte nicht in Gestalt von
wirtschaftlicher Kraft oder in Form des Geldes von sich abtrennt.
Erst die Aufhebung dieser Trennung höbe “die Vorausetzungen des
Schachers, also die Möglichkeit des Schachers“ auf.
Mit der Entwicklung der großen Industrie wird
also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst
hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie
produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg
des Proletariats sind gleich unvermeidlich.
II. Proletarier und Kommunisten
In welchem Verhältnis stehen die Kommunisten zu
den Proletariern überhaupt? Die Kommunisten sind keine besondere Partei
gegenüber den andern Arbeiterparteien.
Sie haben keine von den Interessen des ganzen
Proletariats getrennten Interessen.
Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach
sie die proletarische Bewegung modeln wollen.
Die Kommunisten unterscheiden sich von den
übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, daß sie einerseits in
den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von
der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats
hervorheben und zur Geltung bringen, andrerseits dadurch, daß sie in den
verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und
Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten.40
40Deshalb richten sie jedes örtliche und
taktische Vorgehen am strategischen Ziel des Aufbaus der humanen Gesellschaft
aus, die sie als historische Möglichkeit erkannt haben. Die Kommunisten
“kämpfen für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke
und Interessen der Arbeiterklasse“, schreiben Marx und Engels,
“aber sie vertreten in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die
Zukunft der Bewegung“.
Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste,
immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben
theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die
Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung
voraus.
Der nächste Zweck der Kommunisten ist derselbe wie aller
übrigen proletarischen Parteien: Bildung des Proletariats zur Klasse,41 Sturz der
Bourgeoisieherrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat.42
41Auch heute ist die Formung des Proletariats
zur Klasse eine aktuelle Aufgabe. Dabei geht es insbesondere um die
Bewußtmachung der langfristigen Interessen, die Ablösung des nur
individuellen Arbeiterbewußtseins durch das proletarische Bewußtsein
der Zugehörigkeit zu einer Klasse, um die Stärkung des Gefühls
und der Praxis der Solidarität mit den Lohnarbeitern anderer Betriebe und
Länder etc.
42Im Gefolge des militärischen und
wirtschaftlichen Übergewichts des Zentrum-kapitalismus bzw. der
uneindeutigen Interessen der Arbeiterschaft dieser Länder gibt es keine
unmittelbare Möglichkeit zum politischen Sturz des Systems der
kapitalistischen Ausbeutung. Doch dies schließt die Chance einer
fortschrittlich gerichteten gesellschaftlich-kulturellen Überwindung des
kapitalistischen Systems nicht aus. Ein solcher Prozeß kommt durch die
Selbstrevolutionierung der Zivilgesellschaft und des täglichen Lebens in
Gang, indem die kapitalistische Form der Zivilgesellschaft in diesem
Prozeß schrittweise durch die humane Form der Zivilgesellschaft, d.h. durch die Assoziation der
produzierenden Individuen abgelöst wird. Das wahrhaftige
weltgeschichtliche Ziel ist also die Revolution der Zivilgesellschaft, und die
politische Revolution ist ein Hilfsmittel zur Realiserung dieser Revolution.
Andererseits bereitet der Wandel in der Zivilgesellschaft die politische
Revolution vor und schafft deren Grundlage.
Es ist eine lehrreiche geschichtliche Tatsache, daß die
wirtschaftlich-kulturelle Überwindung des Feudalismus nicht in eins fiel
mit dessen politischem Sturz. Im Prozeß der Entstehung des
kapitalistischen Systems formte die Bourgeoisie die Zivilgesellschaft
stufenweise nach ihrem eigenen Bilde, indem sie eine Art Gegenmacht bzw.noch im Rahmen des feudalen
politischen Systems eine doppelte Macht schuf. Zur Übernahme der
politischen Macht kam es im allgemeinen, nachdem die Bourgeoisie den Kampf in
der Zivilgesellschaft bereits gewonnen, d.h.
nachdem sie in der Zivilgesellschaft die Macht bereits übernommen hatte.
Die politischen Revolutionen gaben im allgemeinen der Machtübernahme, die
sich in der Zivilgesellschaft bereits vollzogen hatte, ihren Segen und
institutionalisierten sie. In der Geschichte der Klassenkämpfe der
Arbeiterschaft spielt demgegenüber in der Realität die Tendenz,
daß die Menschen den Grundstein einer kommunistischen zivilisatorischen
Revolution in der Zivilgesellschaft zu legen beginnen, im Vergleich zu den
politischen Schlachten eine weitgehend untergeordnete Rolle - ja, diese
Möglichkeit wurde und wird sogar überhaupt ignoriert. Die
Bewußtmachung und praktische Verwirklichung der humanen Alternative, die
in den gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen, in den Methoden
ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit, in ihren Lebensformen und Wertsystemen
eigentlich enthalten ist, wurde und wird vernachläßigt.
Doch können, zum einen, Lebensformen
(Produktionsformen, Formen der frei-willigen Assoziation und der
Freizeitgestaltung) entwickelt werden, die die persönliche Freiheit der
Individuen und die Reichhaltigkeit ihrer gemeinschaftlichen Beziehungen
steigern. Zum anderen ist es sehr wohl möglich, danach zu streben,
daß sich die Alternative einer humanen Zivilisation innerhalb der
bestehenden Zivilgesellschaft zu einer kulturellen und wirtschaftlichen
Gegenmacht organisiert. Dies ist gleichbedeutend mit dem bewußten Aufbau
einer parallelen Macht, die gegenüber dem politischen Staat sowie
gegenüber den staatlich manipulierten Mechanismen der Zivilgesellschaft
einen “versteckten Bürgerkrieg“ führt.
Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind.
Sie ist nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung. Die Abschaffung bisheriger Eigentumsverhältnisse ist nichts den Kommunismus eigentümlich Bezeichnendes.
Alle Eigentumsverhältnisse waren einem
beständigen geschichtlichen Wechsel, einer beständigen geschichtlichen
Veränderung unterworfen.
Die Französische Revolution z.B.
schaffte das Feudaleigentum zugunsten des bürgerlichen ab.
Was den Kommunismus auszeichnet, ist nicht die
Abschaffung des Eigentums überhaupt, sondern die Abschaffung des
bürgerlichen Eigentums.
Aber das moderne bürgerliche Privateigentum ist
der letzte und vollendetste Ausdruck der Erzeugung und Aneignung der Produkte,
die auf Klassengegensätzen, auf der Ausbeutung der einen durch die andern
beruht.
In diesem Sinn können die Kommunisten ihre
Theorie in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums, zusammenfassen.
Man hat uns Kommunisten vorgeworfen, wir wollten das
persönlich erworbene, selbsterarbeitete Eigentum abschaffen; das Eigentum,
welches die Grundlage aller persönlichen Freiheit, Tätigkeit und
Selbständigkeit bilde.
Erarbeitetes, erworbenes, selbstverdientes Eigentum!
Sprecht ihr von dem kleinbürgerlichen, kleinbäuerlichen Eigentum,
welches dem bürgerlichen Eigentum vorherging? Wir brauchen es nicht
abzuschaffen, die Entwicklung der Industrie hat es abgeschafft und schafft es
täglich ab.
Oder sprecht ihr vom modernen bürgerlichen
Privateigentum?
Schafft aber die Lohnarbeit, die Arbeit des
Proletariers ihm Eigentum? Keineswegs. Sie schafft das Kapital, d.h. das Eigentum, welches die
Lohnarbeit ausbeutet, welches sich nur unter der Bedingung vermehren kann,
daß es neue Lohnarbeit erzeugt, um sie von neuem auszubeuten. Das
Eigentum in seiner heutigen Gestalt bewegt sich in dem Gegensatz von Kapital
und Lohnarbeit. Betrachten wir die beiden Seiten dieses Gegensatzes.
Kapitalist sein, heißt nicht nur eine rein
persönliche, sondern eine gesellschaftliche Stellung in der Produktion
einnehmen. Das Kapital ist ein gemeinschaftliches Produkt und kann nur durch
eine gemeinsame Tätigkeit vieler Mitglieder, ja in letzter Instanz nur
durch die gemeinsame Tätigkeit aller Mitglieder der Gesellschaft in
Bewegung gesetzt werden.
Das Kapital ist also keine persönliche, es ist
eine gesellschaftliche Macht. Wenn also das Kapital in gemeinschaftliches,
allen Mitgliedern der Gesellschaft angehöriges Eigentum verwandelt wird,
so verwandelt sich nicht persönliches Eigentum in gesellschaftliches. Nur
der gesellschaftliche Charakter des Eigentums verwandelt sich. Er verliert
seinen Klassencharakter.
Kommen wir zur Lohnarbeit:
Der Durchschnittspreis der Lohnarbeit ist das Minimum
des Arbeitslohnes, d.h. die
Summe der Lebensmittel, die notwendig sind, um den Arbeiter als Arbeiter am
Leben zu erhalten. Was also der Lohnarbeiter durch seine Tätigkeit sich
aneignet, reicht bloß dazu hin, um sein nacktes Leben wieder zu erzeugen.
Wir wollen diese persönliche Aneignung der Arbeitsprodukte zur
Wiedererzeugung des unmittelbaren Lebens keineswegs abschaffen, eine Aneignung,
die keine Reinertrag übrigläßt, der Macht über fremde
Arbeit geben könnte.43
43Nach einer späteren Marx’schen
Formulierung stellt der Kommunismus “das individuelle Eigentum auf
Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: der Kooperation und
des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten
Produktionsmittel“ neuerlich her. Dieser Sprachgebrauch wiederholt sich
auch in praktischem Zusammenhang: die Parise Kommune “wollte das individuelle
Eigentum zu einer Wahrheit machen, indem sie die Produktionsmittel ... in bloße Werkzeuge der
freien und assoziierten Arbeit verwandelt“.
Wir wollen nur den elenden Charakter dieser Aneignung aufheben,
worin der Arbeiter nur lebt, um das Kapital zu vermehren, nur so weit lebt, wie
es das Interesse der herrschenden Klasse erheischt.
In der bürgerlichen Gesellschaft ist die
lebendige Arbeit nur ein Mittel, die aufgehäufte Arbeit zu vermehren. In
der kommunistischen Gesellschaft ist die aufgehäufte Arbeit nur ein
Mittel, um den Lebensprozeß der Arbeiter zu erweitern, zu bereichern, zu
befördern.
In der bürgerlichen Gesellschaft herscht also die
Vergangenheit über die Gegenwart, in der kommunistischen die Gegenwart
über die Vergangenheit. In der bürgerlichen Gesellschaft ist das
Kapital selbständig und persönlich, während das tätige
Individuum unselbständig und unpersönlich ist.
Und die Aufhebung dieses Verhältnisses nennt die
Bourgeoisie Aufhebung der Persönlichkeit und Freiheit! Und mit Recht. Es
handelt sich allerdings um die Aufhebung der Bourgeois-Persönlichkeit,
-Selbständigkeit und -Freiheit.
Unter Freiheit versteht man innerhalb der jetzigen
bürgerlichen Produktions-verhältnisse den freien Handel, den freien
Kauf und Verkauf.
Fällt aber der Schacher, so fällt auch der
freie Schacher. Die Redensarten vom freien Schacher, wie alle übrigen
Freiheitsbravaden unserer Bourgeoisie, haben überhaupt nur einen Sinn
gegenüber dem gebundenen Schacher, gegenüber dem geknechteten
Bürger des Mittelalters, nicht aber gegenüber der kommunistischen
Aufhebung des Schachers, der bürgerlichen Produktionsverhältnisse und
der Bourgeoisie selbst.
Ihr entsetzt euch darüber, daß wir das
Privateigentum aufheben wollen. Aber in eurer bestehenden Gesellschaft ist das
Privateigentum für neun Zehntel ihrer Mitglieder aufgehoben; es existiert
gerade dadurch, daß es für neun Zehntel nicht existiert. Ihr werft
uns also vor, daß wir ein Eigentum aufheben wollen, welches die
Eigentumslosigkeit der ungeheuren Mehrzahl der Gesellschaft als notwendige
Bedingung voraussetzt.
Ihr werft uns mit einem Worte vor, daß wir euer
Eigentum aufheben wollen. Allerdings, das wollen wir.
Von dem Augenblick an, wo die Arbeit nicht mehr in
Kapital, Geld, Grundrente, kurz, in eine monopolisierbare gesellschaftliche
Macht verwandelt werden kann, d.h.
von dem Augenblick, wo das
persönliche Eigentum nicht mehr in bürgerliches umschlagen kann, von
dem Augenblick an erklärt ihr, die Person sei aufgehoben. Ihr gesteht
also, daß ihr unter der Person niemanden anders versteht als den
Bourgeois, den bürgerlichen Eigentümer. Und diese Person soll
allerdings aufgehoben werden.
Der Kommunismus nimmt keinem die Macht, sich
gesellschaftliche Produkte anzueignen, er nimmt nur die Macht, sich durch diese
Aneignung fremde Arbeit zu unterjochen.
Man hat uns eingewendet, mit der Aufhebung des Privateigentums werde alle
Tätigkeit aufhören und eine allgemeine Faulheit einreißen.
Hiernach müßte die bürgerliche
Gesellschaft längst an der Trägheit zugrunde gegangen sein; denn die
in ihr arbeiten, erwerben nicht, und die in ihr erwerben, arbeiten nicht. Das
ganze Bedenken läuft auf die Tautologie hinaus, daß es keine
Lohnarbeit mehr gibt, sobald es kein Kapital mehr gibt.
Alle Einwürfe, die gegen die kommunistische
Aneignungs- und Produktionsweise der materiellen Produkte gerichtet werden,
sind ebenso auf die Aneignung und Produktion der geistigen Produkte ausgedehnt
worden. Wie für den Bourgeois das Aufhören des Klasseneigentums das
Aufhören der Produktion selbst ist, so ist für ihn das Aufhören
der Klassenbildung identisch mit dem Aufhören der Bildung überhaupt.
Die Bildung, deren Verlust er damit bedauert, ist
für die enorme Mehrzahl die Heranbildung zur Maschine.44
44Die Massen- und Medienkultur des 20.
Jahrhunderts weitet die Tendenz der Zähmung zur Maschine auch auf den
Geist der Menschen aus. Geradeso wie die wirtschaftliche Tätigkeit des
Menschen, der den Gesetzen des Kapitals und der Marktwirtschaft unterworfen
ist, zur unpersönlichen Tätigkeit wird, so uniformiert und
entpersönlicht die moderne Kultur Denken und Geschmack, Kleidung und
Benehmen, Lebensformen, Konsumgewohnheiten, Unterhaltung und Wertsystem der
Menschen.
Aber streitet nicht mit uns, indem ihr an euren
bürgerlichen Vorstellungen von Freiheit, Bildung, Recht usw. die
Abschaffung des bürgerlichen Eigentums meßt. Eure Ideen selbst sind
Erzeugnisse der bürgerlichen Produktions- und Eigentumsverhältnisse,
wie euer Recht nur der zum Gesetz erhobene Wille eurer Klasse ist, ein Wille,
dessen Inhalt gegeben ist in den materiellen Lebens-bedingungen eurer Klasse.
Die interessierte Vorstellung, worin ihr eure
Produktions- und Eigentums-verhältnisse aus geschichtlichen, in dem Lauf
der Produktion vorübergehenden Verhältnissen in ewige Natur- und
Vernunftgesetze verwandelt, teilt ihr mit allen untergegangenen herrschenden
Klassen. Was ihr für das antike Eigentum begreift, was ihr für das
feudale Eigentum begreift, dürft ihr nicht meht begreifen für das
bürgerliche Eigentum.
Aufhebung der Familie! Selbst die Radikalen ereifern
sich über diese schändliche Absicht der Kommunisten.45
45Die Rede ist vom Ende jener Form der
Familie, die auf dem Privateigentum gründet. Aus dem Ende des
Privateigentums folgt das Ende der Familienformen, die auf dem Privateigentum
aufbauen.
Worauf beruht die gegenwärtige, die
bürgerliche Familie? Auf dem Kapital, auf dem Privaterwerb.
Vollständig entwickelt existiert sie nur für die Bourgeoisie; aber
sie findet ihre Ergänzung in der erzwungenen Familienlosigkeit der
Proletarier und der öffentlichen Prostitution.
Die Familie der Bourgeois fällt natürlich
weg mit dem Wegfallen dieser ihrer Ergänzung, und beide verschwinden mit
dem Verschwinden des Kapitals.
Werft ihr uns vor, daß wir die Ausbeutung der
Kinder durch ihre Eltern aufheben wollen? Wir gestehen dieses Verbrechen ein.
Aber, sagt ihr, wir heben die trautesten Verhältnisse auf, indem wir an
die Stelle der häuslichen Erziehung die gesellschaftliche setzen.
Und ist nicht auch eure Erziehung durch die Gesellschaft bestimmt? Durch die
gesellschaftlichen Verhältnisse, innerhalb derer ihr erzieht, durch die
direktere oder indirektere Einmischung der Gesellschaft, vermittelt der Schule
usw.?46
46Am Ende des 20. Jahrhunderts bilden die
Mittel der Massenkommunikation die Schule, durch deren Vermittlung die
führenden Kräfte des kapitalistischen Systems am effektivsten auf das
Denken und Leben der Menschen Einfluß nehmen können.
Die Kommunisten erfinden nicht die Einwirkung der
Gesellschaft auf die Erziehung; sie verändern nur ihren Charakter, sie
entreißen die Erziehung dem Einfluß der herrschenden Klasse.
Die bürgerlichen Redensarten über Familie
und Erziehung, über das traute Verhältnis von Eltern und Kindern
werden um so ekelhafter, je mehr infolge der großen Industrie alle
Familienbande für die Proletarier zerrissen und die Kinder in einfache
Handelsartikel und Arbeitsinstrumente verwandelt werden.
Aber ihr Kommunisten wollt die Weibergemeinschaft
einführen, schreit uns die ganze Bourgeoisie im Chor entgegen.
Der Bourgeois sieht in seiner Frau ein bloßes
Produktionsinstrument. Er hört, daß die Produktionsinstrumente
gemeinschaftlich ausgebeutet werden sollen, und kann sich natürlich nichts
anderes denken, als daß das Los der Gemeinschaftlichkeit die Weiber
gleichfalls treffen wird.
Er ahnt nicht, daß es sich eben darum handelt,
die Stellung der Weiber als bloßer Produktionsinstrumente aufzuheben.
Übrigens ist nichts lächerlicher als das
hochmoralische Entsetzen unsrer Bourgeois über die angebliche offizielle
Weibergemeinschaft der Kommunisten. Die Kommunisten brauchen die
Weibergemeinschaft nicht einzuführen, sie hat fast immer existiert.
Unsre Bourgeois, nicht zufrieden damit, daß ihnen
die Weiber und Töchter ihrer Proletarier zur Verfügung stehen, von
der offiziellen Prostitution gar nicht zu sprechen, finden ein
Hauptvergnügen darin, ihre Ehefrauen wechselseitig zu verführen.
Die bürgerliche Ehe ist in Wirklichkeit die
Gemeinschaft der Ehefrauen. Man könnte höchstens den Kommunisten
vorwerfen, daß sie an die Stelle einer heuchlerisch versteckten eine
offizielle, offenherzige Weibergemeinschaft einführen wollten. Es versteht
sich übrigens von selbst, daß mit der Aufhebung der jetzigen Produktionsverhältnisse
auch die aus ihnen hervorgehende Weibergemeinschaft, d.h. die offizielle und nichtoffizielle Prostitution,
verschwindet.
Den Kommunisten ist ferner vorgeworfen worden, sie
wollten das Vaterland, die Nationalität abschaffen.
Die Arbeiter haben kein Vaterland.47
47Sie haben kein Vaterland in dem Sinne,
daß sie nicht am Eigentum der Nation teilhaben.
Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben.
Indem das Proletariat zunächst sich die politsche Herrschaft erobern, sich
zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß,
ist es selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie. Die
nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr
und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit,
dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der
ihr entsprechenden Lebensverhältnisse.
Die Herrschaft des Proletariats wird sie noch mehr
verschwinden machen. Vereinigte Aktion, wenigstens der zivilisierten
Länder, ist eine der ersten Bedingungen seiner Befreiung.
In dem Maße, wie die Exploitation des einen
Individuums durch das andere aufgehoben wird, wird die Exploitation einer Nation
durch die andere aufgehoben.48
48Im gegenwärtigen Weltkapitalismus
muß es eher umgekehrt gesagt werden: das Ende der Ausbeutung des Menschen
durch den Menschen setzt voraus, daß die Ausbeutung der einen Nation
durch die andere ein Ende findet. Der Kampf gegen die nationale Bourgeoisie
wird dadurch erschwert, daß internationale Militärkräfte die
Sicherheit des multinationalen Kapitals schützen.
Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nation
fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander.
Die Anklagen gegen den Kommunismus, die von
religiösen, philosophischen und ideologischen Gesichtspunkten
überhaupt erhoben werden, verdienen keine ausführliche
Erörterung.
Bedarf es tiefer Einsicht, um zu begreifen, daß
mit den Lebensverhältnissen der Menschen, mit ihren gesellschaftlichen
Beziehungen, mit ihrem gesellschaftlichen Dasein, auch ihre Vorstellungen,
Anschauungen und Begriffe, mit einem Worte auch ihr Bewußtsrin sich
ändert?
Was beweist die Geschichte der Ideen anders, als daß
die geistige Produktion sich mit der materiellen umgestaltet? Die herrschenden
Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.
Man spricht von Ideen, welche eine ganze Gesellschaft
revolutionieren; man spricht damit nur die Tatsache aus, daß sich
innerhalb der alten Gesellschaft die Elemente einer neuen gebildet haben,
daß mit der Auflösung der alten Lebensverhältnisse die
Auflösung der alten Ideen gleichen Schritt hält.
Als die alte Welt im Untergang begriffen war, wurden
die alten Religionen von der christlichen Religion besiegt. Als die
christlichen Ideen im 18. Jahrhundert den Aufklärungsideen unterlagen,
rang die feudale Gesellschaft ihren Todeskampf mit der damals
revolutionären Bourgeoisie. Die Ideen der Gewissens- und Religionsfreiheit
sprachen nur die Herrschaft der freien Konkurrenz auf dem Gebiet des Wissens
aus.
,,Aber'',
wird man sagen, ,,religiöse, moralische, philosophische, politische,
rechtliche Ideen usw. modifizieren sich allerdings im Lauf der geschichtlichen
Entwicklung. Die Religionen, die Moral, die Philosophie, die Politik, das Recht
erhielten sich stets in diesem Wechsel.
Es gibt zudem ewige Wahrheiten, wie Freiheit,
Gerechtigkeit usw., die allen
gesellschaftlichen Zuständen gemeinsam sind. Der Kommunismus aber schafft
die ewigen Wahrheiten ab, er schafft die Religion ab, die Moral, statt sie neu
zu gestalten, er widerspricht also allen bisherigen geschichtlichen
Entwicklungen.''
Worauf reduziert sich diese Anklage? Die Geschichte der ganzen bisherigen Gesellschaft
bewegte sich in Klassengegensätzen, die in den verschiedenen Epochen
verschieden gestaltet waren.
Welche Form sie aber auch immer angenommen, die
Ausbeutung des einen Teils der Gesellschaft durch den andern ist eine allen
vergangenen Jahrhunderten gemeinsame Tatsache. Kein Wunder daher, daß das
gesellschaftliche Bewußtsein aller Jahrhunderte, aller Mannigfaltigkeit
und Verschiedenheit zum Trotz, in gewissen gemeinsamen Formen sich bewegt, in
Bewußtseinsformen, die nur mit dem gänzlichen Verschwinden des
Klassengegensatzes sich vollständig auflösen.
Die kommunistische Revolution49 ist das
radikalste Brechen mit den überlieferten Eigentumsverhältnissen; kein
Wunder, daß in ihrem Entwicklungsgange am radikalsten mit den
überlieferten Ideen gebrochen wird.
49Nach Marx’ späterer Analyse gibt
es in jenen Ländern eine Chance auf friedliche Revolution, wo die
Zentralisierungsbestrebungen des politischen Staates die lokale
Selbstverwaltung, die Selbstorganisation der Gesellschaft nicht abgeschafft haben.
Zu diesem Gedanken paßt die Vorstellung von Engels, daß “die
Engländer...
wahrscheinlich damit beginnen, daß sie einzelne Kolonien errichten und es
jedem überlassen, ob er beitreten will oder nicht“.
Doch lassen wir die Einwürfe der Bourgeoisie gegen
den Kommunismus.
Wir sahen schon oben, daß der erste Schritt in der
Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die
Erkämpfung der Demokratie ist.50
50Im inhaltlichen Sinne bedeutet
“Demokratie“ Volksherrschaft, die Herrschaft der Mehrheit über
die Minderheit. Diese Bedeutung wird nur durch die Ideologie des modernen
Staates zur Demokratie des Eigentums umgewertet: zur politischen Macht der
Großeigentümer über das kleine Eigentum und die
Eigentumslosigkeit.
Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu
benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle
Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten
Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte
möglichst rasch zu vermehren.51
51“Wir waren schon damals sehr
entschieden der Ansicht...,
daß die Emanzipation der Arbeiter das Werk der Arbeiterklasse selbst sein
muß“ - betont Engels. Das historische Scheitern der sog.
“real existierenden Sozialismen“ ergibt sich in entscheidender
Weise daraus, daß sie einen davon grundlegend abweichenden Weg gingen. Es
kam nicht zur Erkämpfung der Demokratie (als der unmittelbaren Volksmacht),
und die darauf abzielenden Experimente (z.B.
die sowjetische Rätedemokratie, die ungarischen Arbeiterräte und die
polinische Solidarität) wurden regelmäßig abgewürgt. Der
Staat der “real existierenden Sozialismen“ blieb eine
bürokratische Institution bürgerlichen Typs. Das Kapital wurde der
Bourgeoisie nicht Schritt für Schritt im Wege des wirtschaftlichen
Wettbewerbs abgerungen, sondern im wesentlichen durch einen einzigen
politischen Akt. Die Lage der Proletarier als Lohnarbeiter blieb bestehen: sie
traten mit dem in Händen des Staates zentralisierten Kapital nicht als
Eigentümer, sondern bloß als staatliche Lohnarbeiter in Beziehung.
Die politische Führung verurteilte die Werktätigen zu
wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Passivität. So
empfand das Proletariat das System nicht als das seine, machte es nicht zu
seinem eigenen Produkt, sondern stand ihm vielmehr gleichgültig, ja,
feindlich gegenüber. Dies erklärt, wieso die Arbeiterklasse im Zuge
des “Systemwechsels“ das staatliche Eigentum, das laut Verfassung
das seine war, nicht zu schützen suchte.
Es kann dies natürlich zunächst nur geschehn vermittelst
despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen
Produktionsverhältnisse, durch Maßregeln also, die ökonomisch
unzureichend und unhaltbar erscheinen, die aber im Lauf der Bewegung über
sich selbst hinaustreiben und als Mittel zur Umwälzung der ganzen Produktionsweise
unvermeidlich sind.
Diese Maßregeln werden natürlich je nach den verschiedenen
Ländern verschieden sein.
Für die fortgeschrittensten Länder werden
jedoch die folgenden ziemlich allgemein in Anwendung kommen können:52
52“Dieser Passus würde heute in
vieler Beziehung anders lauten. Gegenüber der immensen Fortentwicklung der
großen Industrie in den letzten fünfundzwanzig Jahren und der mit
ihr fortschreitenden Parteiorganisation der Arbeiterklasse, gegenüber den
praktischen Erfahrungen, zuerst der Februarrevolution und noch weit mehr der
Pariser Kommune, wo das Proletariat zum erstenmal zwei Monate lang die
politische Gewalt innehatte, ist heute dies Programm stellenweise veraltet.
Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, daß ‘die
Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und
sie für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen kann’.“ (Vorwort
zur deutschen Ausgabe von 1872)
1. Expropriation des Grundeigentums und Verwendung der
Grundrente zu Staatsausgaben
2. Starke Progressivsteuer.
3. Abschaffung des Erbrechts.53
53Oder die Verhinderung der Vererblichkeit des
kapitalistischen Privateigentums im Interesse der Umgehung der Erneuerung des
Kapitalverhältnisses.
4. Konfiskation des Eigentums aller Emigranten und
Rebellen.
5. Zentralisation des Kredits in den Händen des
Staats durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem
Monopol.
6. Zentralisation des Transportwesens in den
Händen des Staats.
7. Vermehrung der Nationalfabriken,54 Produktionsinstrumente,
Urbarmachung und Verbesserung der Ländereien nach einem gemeinschaftlichen
Plan.
54Später schreibt Marx über die
Industrie-Assoziationen der Arbeiter: “Die Kooperativfabriken der
Arbeiter selbst sind, innerhalb der alten Form, das erste Durchbrechen der
alten Form... Sie zeigen,
wie, auf einer gewissen Entwicklungsstufe der materiellen Produktivkräfte
und der ihr entsprechenden gesellschaftichen Produktionsformen,
naturgemäß aus einer Produktionsweise sich eine neue
Produktionsweise entwickelt und herausbildet“. “Um die arbeitenden
Massen zu befreien, bedarf das Kooperativsystem der Entwicklung auf nationaler
Stufenleiter und der Förderung durch nationale Mittel.“
8. Gleicher Arbeitszwang für alle, Errichtung industrieller Armeen,
besonders für den Ackerbau.
9. Vereinigung des Betriebs von Ackerbau und
Industrie, Hinwirken auf die allmähliche Beseitigung des Unterschieds von
Stadt und Land.
10. Öffentliche und unentgeltliche Erziehung aller Kinder.
Beseitigung der Fabrikarbeit der Kinder in ihrer heutigen Form. Vereinigung der
Erziehung mit der materiellen Produktion usw.55
55Die künstliche Trennung von geistiger
und körperlicher Arbeit vereinseitigt das Individuum. Um “nach
vielen Seiten hin zu genießen“ muß der Mensch, so betont Marx,
“genußfähig, also zu einem hohen Grad kultiviert sein“.
Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede
verschwunden und ist alle Produktion in den Händen der assoziierten
Individuen konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen
Charakter.56
56Das heißt, die von der Gesellschaft
abgetrennte, ihr gegenüber verselbständigte politische Macht und
politische Tätigkeit erlischt. Die über die Gesamtheit der
wirtschaftlichen Energien verfügende Assoziation erhält keinen von
ihr unab-hängigen Staat und keine Politiker.
Die politische Gewalt im eigentlichen Sinne ist die
organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer andern. Wenn das
Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich notwendig zur Klasse vereint,
durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und als herrschende
Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit
diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des
Klassen-gegensatzes, die Klassen überhaupt, und damit seine eigene
Herrschaft als Klasse auf.
An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft
mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die
freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung
aller ist.